Wiederentdeckt: Dewey und der Projektunterricht
(zwar aus dem Schulbereich, aber einiges ist - aus meiner Sicht - übertragbar)
Bildungsbenachteiligte Jugendliche werden »weiterbildungsfähig« – Beobachtungen aus einer Gesamtschule im saarländischen LLL-Programm
Klaus Winkel
Zur Einführung
„Seht mal! Peter lernt mit Renate Englisch!“, ruft Stefan aufgeregt in den Flur. Sofort sammeln sich 10 bis 12 Kinder einer 6. Klasse in der Tür und wundern sich. Im Lehrerzimmer sitzen ihre Englischlehrerin und Tutorin Renate mit ihrem Mathematiklehrer Peter und üben die richtige Aussprache einfacher mathematischer Begriffe. Nein, Dr. Peter Kasten, der in der Klasse auch Naturwissenschaften unterrichtet, hat nicht vor, einen wissenschaftlichen Vortrag auf einem internationalen Fachkongress zu halten. Dort hätte man seine etwas nachlässige Aussprache des „th“ auch wenig beachtet. Er sollte in wenigen Tagen Mathematik in Stefans Klasse in Englisch unterrichten. Und das kam so:
Die Gesamtschule Gersheim im Saarland, in der die geschilderte Situation beobachtet werden konnte, gab sich projektfreudig. Doch bei aller Begeisterung für Projektunterricht verlief eine Konfliktlinie zwischen den Englischlehrern und ihren Kolleginnen und Kollegen, da immer wieder Fachstunden für die Projektarbeit an der Sache, für Exkursionen, Präsentationen und anderes mehr ohne Kompensation verbraucht wurden. Projekte sprengen das Zeitkorsett der 45-Minuten-Stunde wirksam. Nun waren alle Lehrer und Lehrerinnen auch noch Fachvertreter genug, um Verständnis für die Not ihrer Kolleginnen und Kollegen zu entwickeln. Sie erfanden alle gemeinsam den „Englisch-Tag“. Einen Tag lang sollte im 6. Jahrgang (6 Klassen mit je 30 Schülern und Schülerinnen) nur Englisch gesprochen werden: im Unterricht, in den Pausen, während der Mittagsfreizeit und der Arbeitsgemeinschaften. Befreit waren lediglich die Lehrer beziehungsweise Lehrerinnen, die in ihrer Schule nur Latein und Griechisch gelernt hatten. Diese beiden durften überhaupt nicht reden und wurden zu aller Vergnügen als detectives eingesetzt: wer von ihnen an diesem Tag Deutsch redend erwischt wurde, wanderte ins prison. Sie trugen Hüte in der Manier amerikanischer Detektive. Etwas weniger korrekte Schüler mieden ihre Nähe.
Der Englischtag wurde ein Erfolg. Eine wichtige Folge war eine deutlich höhere Lernmotivation der Schülerinnen und Schüler, nachdem sie die Anstrengung ihrer Lehrer beim Lernen ebenso erlebt hatte wie ihre selbstverständliche Bereitschaft, sich in der Aussprache und manchmal auch bei den Vokabeln im Unterricht helfen zu lassen. Beeindruckt waren sie aber auch von sich selber, konnten sie sich doch bereits gut in der fremden Sprache verständigen. Besonders nachgefragt waren später immer wieder die nicht synchronisierten Filme, die die Schülerinnen und Schüler an diesem Tag im Freizeitbereich kennengelernt hatten.
Ob der Englischtag allerdings ein Projekt war, d.h. ob er den Kriterien eines Projektes genügt, wurde damals nicht geprüft.
Kriterien für den Projektunterricht
Um es vorweg zu sagen,: die Projektmethode in der für uns gängigen Verwendung des Methodenbegriffs gibt es nicht, vielmehr eine Vielfalt von Methoden des Projektunterrichts, die variier- und kombinierbar sind, die je nach Situation und Zielorientierung zu einem je spezifischen Projektverlauf kombiniert werden können. Vielfalt heißt nicht Beliebigkeit. Wesentliche Projektkriterien müssen als Grundlage für die Methodenwahl gültig gemacht werden und jedes Projekt folgt wohl auch einen typischen Ablauf. Doch zunächst einige Bemerkungen zum Ursprung des Projektunterrichts.
Idee des Projektunterrichts
Auch wenn die Projektidee wahrscheinlich sehr viel älter ist, wird in der Literatur häufig John Dewey als Begründer des Projektmethode eingeführt. Das ist deshalb durchaus legitim, weil Dewey eine Theorie der Erziehung aus der pragmatischen Philosophie heraus entwickelt hat. Darin spielt die Projektmethode eine zentrale Rolle. Die Projektmethode ist nicht Methode in der Lesart deutscher Erziehungswissenschaft, die Methode und Didaktik häufig trennt mit der Folge, dass Methode um ihrer selbst willen und losgelöst von Inhalten gelehrt werden und schließlich leer laufen kann. ‚Methode‘ ist bei Dewey in wesentlichen Merkmalen identisch mit ‚Denken‘. Dies zu verstehen ist unabdingbar, um Projektunterricht als Alternative zum Fachunterricht begreifen und nutzbar machen zu können.
Für Dewey erwächst Philosophie aus Problemen menschlichen Zusammenlebens; ihre Aufgabe besteht darin, zur Lösung von Problemen der Menschheit beizutragen. Es geht ihm „um die Auseinandersetzung mit Problemen und die Erarbeitung möglicher Lösungsvorschläge, die immer hypothetischen Charakter besitzen und Teil eines fortlaufenden Prozesses der Weiterentwicklung sein sollen“. (Speth 1997, S. 20f)
Wenn es der Philosophie nicht um letzte Wahrheiten und fest gefügte Systeme gehen kann, kann auch Schule kein fest strukturiertes gefächertes Kanonwissen vermitteln. Das bildet nicht. Bildend ist vielmehr der Austausch zwischen Ich und Umwelt. Der Mensch gewinnt Erkenntnis, indem er sich tätig mit der Welt auseinander setzt, in dem er Erfahrung macht. Erfahrung machen ist kein gedankenloses Tun, sondern immer ein geistiger, kreativer Prozess. Damit wird auch klar, dass nicht nur manuelle Tätigkeiten gemeint sind. Es geht um den denkenden Nachvollzug der Veränderungen im Prozess der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. „Denkende Erfahrung“ wird für Dewey zum zentralen Begriff. Diese mache ich gerade jetzt am Schreibtisch in der Auseinandersetzung mit dem Vorhaben, die mögliche Bedeutung des Projektunterrichts für Unterrichtsqualität aufzuzeigen. Es ist ein ebenso schweres wie erfreuliches Vorhaben: beide Qualitäten sind bei Projekten gefordert.
Die bildende Methode der Erfahrung verdeutlicht Dewey in seinem Buch „Demokratie und Erziehung“:
„Die wesentlichen Merkmale der ‚Methode‘ sind darum identisch mit dem wesentlichen Merkmalen des ‚Denkens‘. Es sind folgende: Erstens, daß der Schüler eine wirkliche, für den Erwerb von Erfahrungen geeignete Sachlage vor sich hat - daß eine zusammenhängende Tätigkeit vorhanden ist, an der er um ihrer selbst willen interessiert ist; zweitens: daß in dieser Sachlage ein echtes Problem erwächst und damit eine Anregung zum Denken; drittens: daß er das nötige Wissen besitzt und die notwendigen Beobachtungen anstellt, um das Problem zu behandeln; viertens: daß er auf mögliche Lösungen verfällt und verpflichtet ist, sie in geordneter Weise zu entwickeln; fünftens: daß er die Möglichkeit und Gelegenheit hat, seine Gedanken durch praktische Anwendung zu erproben, ihren Sinn zu klären und ihren Wert selbständig zu entdecken.“ (Dewey 1964, S. 218)
Wenn diese Stufen des Denkens enthalten sind, ist Erfahrung wertvoll und bildend. Sollen diese in Schule verwirklicht werden, muss für Projektunterricht ein neues Verständnis von Lernen zumindest gleichberechtigt neben das herkömmliche treten: Im Projektunterricht gibt es keine feststehenden Wissensbestände, die in Bereiche (Fächer) aufgeteilt den Schülern unpersönlich, objektiv und nach abstrakten und intellektuellen Prinzipien geordnet entgegentreten und gelernt werden müssen. Dieses Lernen ist zeitlich begrenzt durch die verordnete Stundentafel, die für jedes Fach Jahrgangsstufe und Stundenumfang angibt. Inhaltlich schreibt der Lehrplan den Lerngegenstand vor. Dieses Lernen nach Plan ist nach Deweys Verständnis kaum erfolgreich möglich, da die Lehrenden erhebliche Probleme haben, den abstrakten Lehrstoff mit dem handelnden Interesse der Schüler zu verbinden.
Projektunterricht verändert wesentliche Bedingungen des Fachunterrichts: Die tätige Auseinandersetzung mit einem Gegenstand, der von bleibendem Interesse für den Schüler und die Gesellschaft ist, konstituiert Schüler und Lehrer gleichermaßen zu Subjekten des Lernens. Das für sie geltende Prinzip der „forschenden Lernens“ fordert andere Kommunikationsstrukturen als belehrender Unterricht. Die Unterschiede zwischen Lehrer und Lernenden werden auch dadurch verändert, dass für die Bewertung keine äußeren objektiven Maßstäbe vorliegen, sondern kommunikativ entwickelt werden müssen. Selbst Scheitern oder Gelingen ist noch kein Maßstab, da der Schüler auch „grandios“ scheitern kann und dabei eine besonders intensive und zu bedenkende Erfahrung macht. Das besonders Wertvolle ist das Tun und das Denken, das zu höherem Denken führt.
Das Verständnis von Zeit muss für Projektunterricht neu entwickelt werden. Die fortschreitende Entwicklung ist in zugeteilten kurz bemessenen Zeiteinheiten nicht möglich. Zeit fließt in Projekten nicht, wie im Stundenplan unterstellt, äußerlich gegeben gleichmäßig linear, sie ist im Projektunterricht eine Qualität des Gegenstandes und des Prozesses und gehört den Subjekten. Die tätige Auseinandersetzung kennt kein Klingelzeichen, sie braucht Phasen der An- und Entspannung nach dem Urteil der Schüler über das Fortschreiten ihres Projektes. Selbstverständlich ist über den Zeitrahmen für ein Projekt zu befinden und Termine sind vertraglich festzuhalten.
Die tätige Auseinandersetzung mit einem Teil von Welt ist für Schüler immer auch mit Gefühlen, Sympathien, Neigungen und Interessen verbunden. Er tut dies als ganze Person mit Herz, Kopf und Hand, verknüpft seine kindliche Erfahrung mit dem Gegenstand im Prozess des Lernens. Dadurch definiert sich der Lernende unmittelbar zum Gegenstand, dieser ist nicht einer für Schüler weder erkennbar noch gar nachvollziehbaren Wissenschaftslogik folgend didaktisch aufbereitet. Das selbständig handelnde denkende Subjekt gewinnt ‚Würde‘ (vgl. Schreier 1997, S. 81)
Auch die Lehrenden gewinnen im Projektunterricht ‚Würde‘. Studium und Welterfahrung ermöglichen es ihnen ein Idealbild für Projektunterricht in der Schule zu verankern und mit ihrer je spezifischen Kompetenz (mathematisch-naturwissenschaftlich, sprachlich, künstlerisch) ihr Projekt Schule in tätiger Auseinandersetzung so zu bearbeiten, dass sie selbst und ihre Schülerinnen und Schüler sie in Zukunft immer besser meistern. In diesem Sinne gestalten sie Schule als Erfahrungsraum, in dem die Schüler den Lehrer lernen können (vgl. Maturana/Pörksen 2002, S. 75ff)
Fach- bzw. Lehrgangsunterricht und Projektunterricht, wie er auf Dewey basierend gedacht und realisiert werden muss, sind Antipoden. Wer Projektunterricht lediglich als weitere methodische Variante im vielfach zu beobachtenden Methodenzirkus manchen Unterrichts missversteht, verfehlt seinen Kern und vernichtet seine Potentiale. Wie aber kommt Projektunterricht in die Schule?
„Wäre es nicht sinnvoll, sich ein Schulsystem mit doppelten Lehrplan vorzustellen, in dem einerseits in einem (...) Teil 'Prüfungsvorbereitung' auf die Tests und Leistungsnachweise direkt und ohne Verbrämung hingearbeitet, und andererseits der gesamte Rest der verfügbaren Zeit rücksichtslos auf die Arbeit an den 'hard and pleasant tasks' (den schweren und erfreulichen Vorhaben, KW) von Projekten verwandt würde?“ (Schreier 1997, S. 83)
Wollte man diese Frage mit Ja beantworten sollte zugleich festgelegt werden, dass die Prüfungsvorbereitung nicht mehr als die Hälfte oder maximal Zweidrittel der Lernzeit verbraucht.
Für den Projektunterricht sind dann Kriterien und Standards geltend zu machen, die die Qualifikation und Rolle der Lehrenden ebenso betreffen wie die Projektpraxis.
Es ist bereits jetzt üblich, Projekte, Projektwochen in Schulen durchzuführen. Nach meinen Beobachtungen sind sie häufig marginalisiert (nach den Zensurenkonferenzen, vor den Ferien) und folgen oft eher den außerunterrichtlichen Interessen der Lehrerinnen und Lehrer und nicht dem Ziel der tätigen Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit einem wesentlichen Problem, einer geeigneten Sachlage. Deshalb und um einer Kultur des Projektunterrichts das Wort zu reden, seien hier Kriterien und Verfahren für den Projektunterricht aufgeführt.
Projektkriterien und -verfahren
Projektunterricht weist einen eigentümlichen Doppelcharakter auf. Er ist nicht nur wie jeder andere Unterricht inhaltlich bestimmbar, „sondern er ist auch, (...) als Methode der Veränderung und insofern methodisch bestimmbar“ (Hervorhebung auch im Folgenden im Text, KW). Dagmar Hänsel arbeitet diesen Doppelcharakter heraus (1988, S.30f):
„▪ Gegenstand des Projektunterrichts ist, aus inhaltlicher Perspektive betrachtet, eine wirkliche, für den Erwerb von Erfahrungen geeignete Sachlage, aus der den Schülern ein echtes Problem erwächst. (...) Das Problem von dem der Unterricht seinen Ausgang nimmt, können nicht nur konkrete Probleme der gesellschaftlichen Umwelt oder des persönlichen Erfahrungszusammenhangs der Schüler sein, sondern auch die Art und Weise, in der Lernen und Lehren in der Schule üblicherweise stattfindet. Das Nebenthema jedes Projektunterrichts, nämlich der Unterricht und seine Veränderung, kann damit auch zum eigentlichen Gegenstand des Projektunterrichts werden.
▪ Ziel des Projektunterrichts ist es, jenes Problem zu lösen, und zwar besser, d.h. erziehlicher, als dies in der gesellschaftlichen Wirklichkeit und in der Schule geschieht.
▪ Die Methode (...) zeichnet sich dadurch aus, daß die Problembearbeitung (...) in gemeinsamer Anstrengung von Lehrenden und Lehrenden und in handelnder Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit erfolgt. Aus der Notwendigkeit, gemeinsam ein echtes Problem zu lösen, ergibt sich wiederum eine typische Verlaufsstruktur des Projektprozesses, die von der Formulierung des Problems und dem gedanklichen Entwurf möglicher Lösungen über einen Plan zur bestmöglichen Problembearbeitung, der praktischen Erprobung des Plans zur Beurteilung der Problemlösung führt.
Zusammenfassend läßt sich Projektunterricht damit inhaltlich bestimmen als Unterricht, in dem Lehrer und Schüler ein echtes Problem in gemeinsamer Anstrengung und in handelnder Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu lösen suchen, und zwar besser als dies in Schule und Gesellschaft üblicherweise geschieht.
▪ Gegenstand des Projektunterrichts ist, nun aus methodischer Perspektive betrachtet, eine geplante Veränderung von Mensch und Welt, d.h. von Schülern, Lehrern, Schule und Gesellschaft.
▪ Ziel des Projektunterrichts als geplanter Veränderung von Mensch und Welt ist es, Erziehung in einem sehr umfassenden Sinne zu bewirken. Erziehung meint dabei nicht nur eine Höherentwicklung der am Erziehungsprozeß beteiligten Individuen, sondern auch eine Gestaltung von Schule und Gesellschaft, die sich am Maßstab von Erziehung orientiert. Schule und Gesellschaft müssen nach dieser Vorstellung so gestaltet werden, dass sie allen ihren Mitgliedern jene umfassende Höherentwicklung und damit Erziehung erlauben.
▪ Die Methode des Projektunterrichts als geplanter Veränderung ist eine pädagogisch-praktische. Das Ziel des Projektunterrichts, die erziehliche Veränderung von Mensch und Welt, wird durch praktische pädagogische Tätigkeit von Lehrern und Schülern im Prozeß dieser Tätigkeit verwirklicht und reicht zugleich über diesen Prozeß hinaus. Es wird insofern im Prozeß verwirklicht, als hier zwischen Mensch und Welt eine neue, wechselseitige Beziehung hergestellt wird, die die Utopie einer humanen Schule und Gesellschaft konkret macht. Auch wenn diese Utopie mit dem Abschluß des geplanten Veränderungsversuchs wieder zerfällt, schafft sie doch für das Handeln in der Praxis eine neue Perspektive.
Zusammenfassend läßt sich Projektunterricht damit methodisch bestimmen als geplanter Versuch, als pädagogisches Experiment, das von Lehrern und Schülern in Form von Unterricht unternommen wird und das zugleich die Grenzen von Unterricht überschreitet, indem es Schule und Gesellschaft durch praktisches pädagogisches Handeln erziehlich zu gestalten sucht.“
Projektunterricht ist zwingend an eine erfahrungsbezogene Erziehungsphilosophie der Lehrer gebunden, auch darauf weist Hänsel nachdrücklich hin (a.a.O., S. 31f). Lehrer müssen verstehen lernen, ihren Unterricht als Erziehung zu gestalten, dann erst kommt der Projektunterricht zu sich selbst. Erziehlich und nicht anders ist der Prozess der Auseinandersetzung mit konkreten Situationen mit sozialem gesellschaftlichem Kern, woraus eine soziale Aufgabe erwächst.
Dieser Doppelcharakter des Projektunterrichts ist möglicherweise eine Ursache dafür, dass er in deutschen Schulen nicht richtig Fuß gefasst hat. Zwar geht der Vorschlag Schreiers, Projektunterricht neben Prüfungsvorbereitung mit einem gerüttelt Maß an Zeit zu etablieren von der Komplementarität beider Unterrichtsformen aus, tatsächlich aber stehen sich diese Unterrichtsformen auch zerstörerisch gegenüber. Projektunterricht stellt herkömmlichen Unterricht immer in Frage und entwickelt zugleich die Alternative. Gleichwohl könnte diese Spannung von Lehrern und Schülern aufgenommen und ausgehalten werden. Auch Schule selbst ist ja ein Projekt, das immer weiter vorangetrieben werden muss. Der Fachunterricht selbst birgt die notwendige Dynamik aber nicht in sich. Die Ausschließlichkeit, mit der er in der Mehrzahl der Schulen – insbesondere der Gymnasien – stattfindet hat u.a. zu dem TIMSS und PISA-Desaster geführt.
Projektunterricht fordert hohe professionelle Kompetenz der Lehrer. Das beginnt bei der Bewältigung der inhaltsbezogenen Aufgaben (Hänsel a.a.O.):
1. Auswahl einer wirklich geeigneten Sachlage. Es genügt nicht einen Projektbaum aufzustellen und die Schüler sammeln und ordnen zu lassen, woran sie gerne arbeiten möchten. Die Lehrer müssen gemeinsam mit ihren Schülern prüfen, wie relevant die Vorschläge sind und ob sie wirklich angemessene soziale Aufgaben in sich bergen. Das ist im traditionellem Verstande eine didaktische Aufgabe, die hier bereits dialogisch bearbeitet werden muss. Dabei werden Kriterien entwickelt, was eine wirkliche Sachlage ist, ob sie tatsächlich bearbeitet werden kann – nicht jedes relevante Problem kann und darf in schulischen Projekten bearbeitet werden.
2. Entwicklung eines Arbeitsplanes. Auch wenn Unterrichtsprojekte offen sein sollen, muss ein gemeinsamer Plan erarbeitet werden; erst der Plan gestattet gezieltes Handeln und ermöglicht Offenheit, dann nämlich, wenn man in den immer wieder notwendigen Planungssitzungen begründete Veränderung vornimmt.
3. Eine handlungsbezogene Auseinandersetzung mit dem Problem herstellen. Die Handlung selbst, der Arbeitsprozess, die darin gemachten Erfahrungen und das Nachdenken darüber in Gesprächsrunden, Protokollen, Tagebüchern, Tagesschauen ist mindestens so wichtig wie ein mögliches Ergebnis.
4. Die gefundene Problemlösung an der Wirklichkeit überprüfen heißt festzustellen, ob eine bessere weil erziehliche Lösung des Problems möglich geworden ist. Es kann aber auch die Problembearbeitung daraufhin geprüft werden, ob sie eine bessere Alternative zur gängigen darstellt. Und schließlich kann gefragt werden, ob und wie die Beteiligten sich verändert und entwickelt haben.
Und setzt sich fort mit den methodenbezogenen Aufgaben:
1. Voraussetzungen des Experiments klären. Als Voraussetzungen gehen Kritik an Schule und Gesellschaft ebenso ein wie die Überzeugung, dass das eigene Handeln für die Veränderung bedeutsam ist. Deshalb müssen die beteiligten Lehrer sich Rechenschaft geben über ihre Erziehungsphilosophie, ihre Vorstellung von Schule und Unterricht. Im Projektunterricht ist es selbstverständliche tägliche Praxis, ihn einer metadidaktischen Reflexion zu unterziehen. Selbstverständlich sind auch die institutionellen Bedingungen des Unterrichts und ihrer Veränderbarkeit zu prüfen, damit nicht an Konfliktlinien gearbeitet werden muss, die den Kern der ausgewählten Sachlage entschieden verfälschen.
2. Das Ziel des Experiments bestimmen heißt nicht nur sich Rechenschaft darüber abzulegen, was Schüler und Lehrer über ein bestimmtes Problem lernen wollen, sondern für die Lehrer auch, wie sie sich im und durch den Projektunterricht verändern wollen. Projektunterricht ist immer eine Veränderungssituation für beide: Schüler und Lehrer.
3. Versuchsbedingungen herstellen. Projektunterricht braucht bessere Bedingungen als Fachunterricht. Diese herzustellen ist Teil des Projektes. Sie bestehen z.B. in der intensiveren Kooperation der Lehrkräfte, in der Bestimmung des eigenen Zeitrhythmusses, in Öffnung der Schule, in Bereitstellen von PC, Telefon und diversen Arbeitsmaterialien, Einbeziehung von Experten, Verzicht auf Lehrplan, Test und Klassenarbeiten wie auch auf herkömmliche Benotungsverfahren.
4. Ergebnis des Experiments prüfen. Neben der Frage danach, ob ich mich als Lehrer im Projekt verändert habe und wie sich die Schüler verändert haben muss auch die Frage gestellt werden, wie der Projektprozess sich auf den Normalunterricht ausgewirkt hat. Die Lehrer-Schüler-Beziehungen können verändert sein, die Professionalität der Lehrer hat sich erhöht, neue Kooperationsformen sind entstanden.
Schließlich ist Projektunterricht an Kriterien gebunden, die ihrerseits bestimmte Methoden verlangen. Deren Beherrschung und zielgerichtete Kombination gehört zu den vorausgesetzten Kompetenzen der Lehrer.
Emer und Lenzen (1997, S.217-220) nennen folgende Kriterien:
▪ Selbstbestimmtes Arbeiten
▪ Fächerübergreifendes Arbeiten
▪ Produktorientierung
▪ Kommunikative Vermittlung
▪ Gesellschaftsbezug
▪ Lebenspraxisbezug
▪ Ganzheitliches Arbeiten
Aus der Fülle der Methoden greifen sie die für Projektunterricht wichtigen exemplarisch auf:
▪ Handlungsorientierung: Handlungsorientierung ist zunächst einmal ein Unterrichtsprinzip mit einem dazugehörigen Methodenbereich. Sie ist das zentrale methodische Prinzip von Projektarbeit, das die Selbsttätigkeit und soziale Kompetenz der Lernenden betrifft. Handeln spielt in der Projektarbeit eine zentrale Rolle, nicht als bloße Tätigkeit, sondern zugespitzt als Eingreifen in die soziale Wirklichkeit.
▪ Öffnung von Schule: Mit den ihr verbundenen Methoden (z.B. Erkundung, Interview, Reportage, Kontaktaufnahme) werden verschiedene Dimensionen von Handlungsorientierung angesprochen und Kriterien der Projektarbeit (Lebenspraxis-, Gesellschaftsbezug u.a.) betont.
Weitere wichtige Methoden sind:
▪ Offener Unterricht
▪ Erfahrungsbezogener Unterricht
▪ Epochenunterricht
▪ Soziales Lernen und Gruppenunterricht
▪ Exemplarisch-genetisches Lernen
▪ Fächerübergreifender Unterricht
▪ Erlebnispädagogik
▪ Entdeckendes Lernen
▪ Praktisches Lernen
Projektunterricht verlangt das Knüpfen eines gegenstands- und zielbezogenen Kriterien- und Methodennetzes und besondere Berücksichtigung der zu entwickelnden Methodenkompetenz der Schüler. Dieses Netz ist immer nur Mittel, nie aber Zweck.
Qualität des Unterrichts
Mit der Rezeption der PISA-Studie einher geht wieder einmal die kritische Auseinandersetzung mit der gängigen Unterrichtspraxis und der gängigen Methode des fragend-entwickelnden Lernens (z. B. Baumert 2002, S. 100-150). Im Grunde hat bereits Dewey vor 100 Jahren diese Kritik geführt. Sein Konzept der ‚denkenden Erfahrung‘ sieht den Schüler als künftigen Menschen in einer Demokratie. Der herkömmliche Unterricht erzieht eher zum Staatsbürgertum, er ist also affirmativ. Er löst den Anspruch eines demokratisch verfassten Landes nicht ein. Allein deshalb ist seine Reform dringend erforderlich. Dass Deutschland in allen internationalen Vergleichsstudien im unteren Drittel der Erfolgsskalen liegt, zwingt zusätzlich zur Revision des Fachunterrichts und der Unterrichtsstruktur. Projektunterricht kann das Problem lösen helfen. Der Unterricht selbst wäre die wirklich geeignete Sachlage für tätige Auseinandersetzung über eine lange Zeitspanne. Das Interesse der Schüler ist ebenso gewiss wie das der Gesellschaft. Die Projektmethode bietet den Vorteil evolutionärer Entwicklung durch die Lehrer und Schüler selbst, wenn sie denn in Fachgruppen und Jahrgangsteams und in Klassenräten und Schulkonferenzen miteinander kooperieren. Die Vorgehensweise ist experimentell, die Ergebnisse werden von ihnen selbst in neue Praxis umgesetzt. Für die Lehrer geht es letztlich um die Professionalisierung ihres Berufs: die eigene Tätigkeit beobachtbar und reflektierbar zu machen und auf Optimierung zu setzen. Dazu sind Handlungsroutinen abzubauen und kollegial neue Handlungssicherheit auch unter der Bedingung von Projektunterricht zu erarbeiten. Zurecht schreibt Baumert: „Bürokratisch anzuordnen ist hier nichts.“ (a.a.O., S.147) Projektunterricht muss von den Schülern und Lehrern gewollt werden, dann wird er die Qualität des Unterrichts mit Sicherheit verbessern.
Von der Schule zur Weiterbildung
Diese Beobachtungen gehen – zu Beginn wurde es geschildert – auf ein Projekt an der Gesamtschule Gersheim im Saarland zurück. Diese Schule ist eine im besonderen Maße engagierte Bildungseinrichtung. So nimmt sie auch am saarländischen Projekt im Rahmen des BLK-Modellversuchsprogramms zum „Lebenslangen Lernen“ teil, das vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung betreut wird. Ziel des saarländischen LLL-Projekts ist, bildungsbenachteiligte Jugendliche insbesondere über mediengestütztes Projektlernen auf lebenslange Lernprozesse vorzubereiten. Sie sollen in die Lage gebracht werden, sich später, beispielsweise im Berufsleben, „selbstgesteuert“ oder mit Unterstützung von Einrichtungen der Erwachsenenbildung weiterbilden zu können. Gerade bei bildungsbenachteiligten Jugendlichen ist das aber eigentlich nur über Projektarbeit, über nachvollziehbare Lernzusammenhänge, möglich. Die Gersheimer Erfahrungen sind diesbezüglich sehr ermutigend.
Wir können also zusammenfassen: Es ist am Beispiel der Gesamtschule Gersheim erneut deutlich geworden, dass ein Zusammenhang zwischen der Motivation am Lernen und den Lernresultaten zu existieren scheint; und die Lust am Lernen wird durch Projektunterricht sicherlich erhöht. Zudem deuten die Gersheimer Erfahrungen an, dass durch Projektunterricht auch die Chancen steigen, bildungsbenachteiligte Jugendlichen später, als Erwachsene, für Weiterbildungsangebote gewinnen zu können.
Literatur:
Bastian, J./Gudjons, H./Schnack, J./Speth, M. (Hgg.) (1997): Theorie des Projektunterrichts. Hamburg
Baumert, J. (2002): Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. In: Killius, N./Kluge, J./Reisch, L.: Die Zukunft der Bildung. Frankfurt a. M., S.100-150
Dewey, J. (1964): Demokratie und Erziehung. Weinheim/Basel (Nachdruck 1993 der 3. Auflage)
Emer, W./Lenzen, K.D. (1997): Methoden des Projektunterrichts. In: Bastian, J. u.a. (Hgg.): Theorie des Projektunterrichts. Hamburg, S. 213-230
Hänsel, D./Müller, H. (1988): Das Projektbuch Sekundarstufe. Weinheim/Basel
Maturana, U. R./Pörksen, B. (2002): „Der Schüler lernt den Lehrer.“ In: Pädagogik, Heft 7-8, S.75ff
Schreier, H. (1997): Drei Facetten der Projektidee. In: Bastian, J. u.a. (Hgg.): Theorie des Projektunterrichts. Hamburg, S. 71-88
Speth, M. (1997): John Dewey und der Projektgedanke. In: Bastian, J. u.a. (Hgg.): Theorie des Projektunterrichts. Hamburg, S.19-37
Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Juli 2003
Klaus Winkel, Wiederentdeckt: Dewey und der Projektunterricht. Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/32003/winkel03_01.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp